Ein Wintergast
Die Situation kennt wohl jeder. Ein langer anstrengender Arbeitstag geht zu Ende, man ist todmüde und denkt an nichts anderes, als endlich nach Hause zu kommen - Füße ausstrecken, einfach nur mehr Nichts tun. „I’m coming home, I’ve done my time….“ summte ich vor mich hin als ich das Haus betrat. Schnell noch in bequeme Kleidung geschlüpft, dann stand dem Dolcefarniente nichts mehr im Wege. Mit einem Seufzer ließ ich mich aufs Sofa fallen, schloss die Augen und ließ den Tag gedanklich noch einmal kurz Revue passieren. Als ich die Augen wieder öffnete und schläfrig an die Decke starrte, entdeckte ich in der Ecke einen dunklen Fleck .“Langsam wird’s wirklich Zeit den Maler zu holen“ murmelte ich schläfrig vor mich hin, während mit einem zornigen Knurren mein Magen darauf Aufmerksam machte, dass er sich vernachlässigt fühlt. Könnt ihr dämlichen Körperteile euch vielleicht irgendwann mal einig sein? Die Beine da unten wollen hochgelagert werden, das Mittelding da drinnen will gefüttert werden und der Kopf da oben grantelt vor sich hin, weil er entscheiden soll, ob er dem einen oder den anderen dienen soll. Leicht genervt starrte ich weiter auf den dunklen Fleck, der langsam Konturen anzunehmen begann. Dunkel und dreieckig. Wie ein Nachtfalter. Wie ein Nachtfalter? Langsam richtete ich mich auf, rieb mir die Augen und näherte mich dem Dreieck. Unglaublich, aber wahr, es war ein Nachtfalter! Nicht, dass ich noch nie einen verirrten Nachtfalter in der Wohnung gehabt hätte, aber jetzt war es Ende November, draußen war es eisigkalt und die Witterungsbedingungen für Insekten alles andere als geeignet, um Ausflüge zu unternehmen. Wo war der Flattermann also hergekommen? Nach eingehender Betrachtung stellte sich heraus, es war eine Hopfen-Schnabeleule. Irgendwo hatte ich schon gelesen, dass diese Tiere in Schuppen, Baumhöhlen oder im Falllaub überwintern, dass sie auch beheizte Gebäude aufsuchen, war mir neu. Aber sie war da, unverkennbar.
Während ich mir ein Essen zubereitete, überlegte ich, wie ich mit dem Falter verfahren sollte. Draußen war es eindeutig zu kalt für ihn, um auf die Schnelle ein geeignetes Winterquartier zu finden, drinnen eindeutig zu warm, um überhaupt in Winterruhe zu kommen. Was tun? Ein Tag mehr oder weniger wird nicht von Bedeutung sein, kam ich zum Schluss, ich würde meine Entscheidung auf morgen vertagen.
Generell neige ich ja nicht dazu, meine eigenen Befindlichkeiten auf die Tierwelt zu übertragen, möglicherweise war es mein mittlerweile gewaltiges Hungergefühl, das in mir den Gedanken aufkeimen ließ, dass das Tierchen womöglich auch Hunger haben könnte. Bis das Essen fertig war, hatte ich noch Zeit, also tränkte ich ein Stück Küchenrolle mit Holundersirup, pappte das Teil auf eine Frischhaltefolie, um nicht an der Wand eine knallrote Sauerei zu hinterlassen und befestigte diese mit einem Klebeband auf dem Türstock unter dem Eulchen. Wohl bekomm‘s! Ich setzte mich zu Tisch, begann zu essen und beobachtete den Falter. Ich sollte recht behalten, es dauerte keine fünf Minuten und die Schnabeleule änderte die Sitzposition Richtung Türstock. Langsam krabbelte sie nach unten bis sie das Objekt der Begierde erreicht hatte und setzte sich mitten auf den roten Fleck. Ich holte meine Lupe, um die Szene genauer zu betrachten. Tatsächlich, das Tierchen saugte genüsslich den Holundersirup. „Stärk dich, Flattermann“ dachte ich „morgen geht’s in die Freiheit, da brauchst du Reserven“.
Als ich am nächsten Morgen das Schlafzimmer verließ, fiel mein Blick auf den roten Farbtupfer am Türstock. Ah ja, die Schnabeleule! Habitatwechsel ist angesagt. Am besten in die Gartenhütte, da wäre sie zumindest ein wenig geschützt. Ich holte einen Plastikbecher und ein Stück Papier zum Darunterschieben. Gutes Werkzeug um allerhand Kleingetier, das sich ins Haus verirrt hat, einzufangen und nach Draußen zu transportieren. Doch die Eule war verschwunden. Ich durchsuchte alle Winkel und Ecken, beutelte meine Kleidung aus, inspizierte jede dunkle Stelle, an der sich so ein Tier möglicherweise verstecken konnte, aber weit und breit keine Hopfen-Schnabeleule. Nun ja, irgendwie war sie reingekommen, auf diesem Weg wird sie wohl auch wieder rausgekommen sein, die Sache hatte sich von selbst erledigt.
Der Tag nahm seinen Lauf, bald war das Eulchen vergessen. Beim Nachhausekommen fiel mir ein, dass ich vergessen hatte die Folie mit dem Sirup abzumontieren. Ich ging zur Tür, um das Teil zu entfernen und siehe da, die rote Folien-Imbissbude war wieder besucht. Doch was auch immer dem Tierchen nicht behagte, plötzlich flog es auf und verschwand in Windeseile im Bücherregal hinter dutzenden von Büchern. Keine Chance es aufzuspüren. Na gut, wenn du nicht willst du Stubenhocker, ich werde dich nicht zwingen können. Viel Spaß beim Lesen!
Lange Rede kurzer Sinn, die Hopfen-Schnabeleule hatte wohl kurzerhand beschlossen, den Winter gemütlich in ihrer beheizten Bibliothek zu verbringen. Immer wenn sie Hunger hatte, verließ sie ihre Wälzer und flog an die Holundersirup-Bar. Dieses Spiel wiederholte sich beinahe täglich bis in den Spätwinter. Eines Tages Ende Februar saß sie plötzlich an der Fensterscheibe. Ich spürte, die Zeit war gekommen, um meinen winterlichen Gast zu verabschieden. Ich ließ sie auf ein Blatt Papier krabbeln, öffnete das Fenster und pustete sie raus. Mit ein wenig Wehmut blickte ich einer liebgewonnen Freundin hinterher…der wohl belesensten Hopfen-Schnabeleule der Welt.
Sabine Gasparitz (November 2018)